Wege übers Land

Adelheid Koch vor dem Fröhlich-Haus. In den 50er Jahren.
Vor dem Fröhlich-Haus 1953

Adelheid Koch erzählt: 1945 sind wir nach Luckow gekommen. Ich war 8 Jahre alt. Wir sind aus Augustwalde geflüchtet, heute Wielgowo, ein Stadtteil von Stettin. Ursprünglich kam meine Familie aus der Pfalz. Die Regierung wollte damals in den 20er Jahren Bauern für die Gebiete um Stettin herum gewinnen. Meine Oma ist dem gefolgt und ist nach Augustwalde gezogen. Sie hat sich dort niedergelassen und ein Haus gebaut. Es war sehr schön dort.

Auf unserem Hof haben Polen mit uns zusammen gearbeitet. Die sind später auch nicht vor den Nazi geflohen, sondern bei uns geblieben. Wir hatten ein gutes Verhältnis zu ihnen. Doch dann hieß es auf einmal, die Polen dürfen nicht mehr bei euch am Tisch sitzen. Oh Gott, sagte mein Vater, muss ich schon wieder umbauen. Wir brauchten nun einen Extraraum für sie. Eines Tages kam der Ortsbauernführer zu uns. Leise fragte er mich: Wo ist denn deine Mutter? Ich wollte gerade was sagen und da tritt mir mein Vater auf den Fuß. Ich sollte nicht sagen, dass die Mutti gerade Butter macht. Der Ortsbauernführer hätte bestimmt einen Teil davon haben wollen.

Nach dem Krieg ist für uns alles zusammengebrochen. Wir haben nichts mehr gehabt. Wir mussten zweimal flüchten. Das erste Mal war es noch ein geordneter Treck. Wir kamen bis Greifswald. Wir hatten den größten Pferdewagen vollgepackt und sind mit den besten Pferden los. Auf dem Wagen war so viel zu Essen, davon hätten wir ein halbes Jahr leben können.

Auf dem Weg nach Greifswald wurde uns ständig irgendetwas geklaut, dazu gehörten schließlich auch unsere beiden Pferde. Dabei hatten wir gut auf sie aufgepasst. In Greifwald hieß es, der Befehl ist aufgehoben, ihr könnt wieder nach Hause. Mein Vater dachte, wenn er jetzt nach Hause kommt, stehen seine Rinder noch im Stall. Aber der Stall war abgebrannt und die Rinder waren weg. Da habe ich das erste Mal gesehen, wie meinem Vater die Tränen gekommen sind.

Meine Eltern waren tatkräftig. Sie haben schnell alles wieder geordnet. Wir hatten auch schon wieder Sachen angebaut, Salat und so, damit wir was zum Essen haben. Die Polen sind bei uns geblieben. Bei anderen Bauern sind sie abgehauen, auch weil sie dort nichts zu essen bekommen haben.

Eines Tages kam ein Pole auf den Hof und sagte: In drei Stunden seid ihr hier raus. Was sollten wir machen? Es gab keinen Wagen mehr und kein Pferd. Erst wollte mein Vater einen kleinen Handwagen nehmen, doch dann entschied er sich für die größere Karre. Ich weiß gar nicht, wie meine Eltern das geschafft haben mit der Karre. Wir sind nach Luckow gelaufen. Wie lange wir unterwegs waren, daran kann ich mich nicht erinnern. Unterwegs war alles voller Flüchtlinge. Wir sind nach Luckow gegangen, weil Verwandte von uns schon hier waren und irgendwo musste man ja einen Platz finden. Unsere Verwandten hatten ein Zimmer für uns geräumt. Wir haben zu viert: Mutter, Vater und zwei Kinder, in einem 15 qm Zimmer bei den Lau‘s gewohnt. Die Lau’s waren gut und freundlich zu den Flüchtlingen.

Damals habe ich mich immer gefragt, warum die Leute so wütend sind, dass sie die Flüchtlinge unterbringen müssen. Aber später, als alles ein bisschen besser wurde, habe ich es langsam verstanden. Es waren ja ihre Häuser und wir mussten ja nicht einmal Miete zahlen, weil wir nichts hatten und es waren ja so viele Flüchtlinge. Luckow hatte plötzlich doppelt so viele Einwohner. Mit den meisten Luckowern haben wir uns aber gut verstanden.

Vom Karrenziehen hatte mein Vater ein ganz schlimmes Geschwür an der Schulter bekommen. Das hatte richtig gestunken. Er ist nach Penkun ins Krankenhaus gekommen. Das waren Baracken, aus denen sie ein Krankenhaus gemacht hatten. Der Arzt sagte: Herr Johann, wenn wir das Mittel hätten, was sie in Amerika haben, dann könnten wir ihnen helfen. Vierzehn Tage später war mein Vater tot.

Alle zwei Tage ist damals einer an Typhus gestorben. Der Raum, den sie für die Toten hatten, war immer voll. Vor der Kirche gab es einen Geräteschuppen, da kam auch mein Vater rein. Das habe ich mitbekommen. Ich habe mich vor die Schuppentür gesetzt und habe das ganze Dorf zusammengeschrien. Mein Papa. Mein Papa. Ich war Papakind. Oh ja, das waren schlimme Zeiten. Er ist dann auf den Friedhof an der Kirche gekommen. Das Grab gibt es aber nicht mehr.

Damals hatten wir gedacht, dass wir nicht lange bleiben müssen, dass wir bald wieder zurück können. Alle, die uns auf der Flucht begegnet waren, hatten diesen Gedanken. Dann aber waren wir bis 1979 in Luckow. Danach in Casekow.

Es ist Sommer. Sechs Frauen stehen vor einem Haus.
Vor dem Fröhlich-Haus.

In Luckow haben wir eine Zeitlang im Fröhlich-Haus gewohnt. Wir wohnten dort zusammen mit Anna Neumann, auch sie eine Flüchtlingsfrau. Sie war alleinstehend und die Seele von Luckow. Sie war hier die Ansprechperson. Sie hat geholfen, wo sie gebraucht wurde, auf dem Friedhof, in der Kirche, überall. Sie hat fürs Dorf gebacken, auf die Kinder aufgepasst. Später ist sie in den Westen gegangen, um den Bruder zu pflegen. Das muss Ende der 80er gewesen sein. Ich habe sie mal besucht. Sie war sehr unglücklich, dass sie Luckow verlassen musste und ist drüben nie richtig angekommen.

Auf der linken Seite vom Fröhlich-Haus wohnten die Hannemanns. Frau Hannemann war Schneiderin. An sie denke ich heute noch, wunderbar hat die genäht. Sie konnte sich gar nicht retten vor Aufträgen. Und dann wohnte da eben noch Frau Fröhlich. Das war auch so eine gute Seele.  Sie hat geholfen, wo sie konnte. Nach ihr haben wir das Haus immer das Fröhlich-Haus genannt.

Alle Mädchen, die Anfang der 50er Jahre 13 oder 14 Jahre alt wurden, mussten bei den Bauern in Stellung gehen und auf dem Feld arbeiten. Als ich 14 Jahre alt wurde, war das auch für mich vorgesehen. Ich hab geheult. Ich war so spindeldürr, klein und zart. Ich wollte nicht aufs Feld, ich konnte nicht. Meine Mutter hat mir eine Lehrstelle bei der Bank besorgt. In Luckow gab es damals eine Raiffeisenbank, links das letzte Haus im Dorf Richtung Strümmel. Die Lehre dauerte 2,5 Jahre, der praktische Teil war in Luckow, die Schule in Angermünde. Morgens um sechs Uhr ist der Zug von Casekow gefahren. Nach Casekow bin ich gelaufen. Oh je, ich darf gar nicht daran denken. Das würde doch heute keiner mehr machen.

Adelheid Koch auf dem Wachtberg. Vor ihr liegt ein Hund.
Auf dem Wachtberg

In der Bank habe ich als Hauptbuchhalter gearbeitet. 1957 gab es einen Geldumtausch. 300 Mark wurden sofort umgetauscht, der Rest wurde auf dem Konto gutgeschrieben. Allerdings hatten damals nur die Bauern ein Konto. Alle anderen hatten kaum Geld. Damals hatten die Bauern immer geklagt, dass sie kein Geld haben. Doch bei dem Umtausch mussten alle bei mir vorbei. Da hatten sie plötzlich alle Geld. Ich dachte immer, bleib ruhig, das geht dich nichts an. Die mussten ja denken, Mensch jetzt weiß die, wie viel Geld wir haben. Dabei gibt es doch das Bankgeheimnis. Jetzt ist es bestimmt verjährt. Jetzt kann ich davon erzählen.

Ende der 50er Jahre wurde die Raiffeisenbank in Luckow geschlossen und ich wurde nach Casekow delegiert, in die Bäuerliche Handelsgenossenschaft (BHG). Das war nicht nur eine Bank, wir mussten auch Arbeitsgeräte, Futter- und Saatmittel an die Bauern ausgeben. In der BHG wurde ich auch in die Buchhaltung gesetzt. Die Arbeit mochte ich nicht besonders. Deshalb blieb ich nicht lange. Ich habe zuerst im Gemeindebüro die Buchhaltung gemacht und später bin ich ins Büro der LPG gewechselt. 1991 war dann Schluss. Ich musste mit 55 Jahren in den Vorruhestand.

Vor der Schmiede zu LPG-Zeiten.
Vor der Schmiede zu LPG-Zeiten.

Mein Mann ist nicht von hier gewesen, der kam aus Merseburg. Er hatte Landwirtschaft studiert in Leipzig an der Karl-Marx-Universität. Mitten im Studium hieß es dann: „Der Süden hilft dem Norden“. Die Studenten wurden also in den Norden geschickt. Ihren Abschluss haben sie später per Fernstudium an der Humboldt-Universität in Berlin gemacht. Mit zehn Leuten ist mein Mann 1956 in unsere Gegend gekommen. Als die jungen Landwirte ankamen und sahen, was hier los war, die ganzen Trümmer lagen noch rum, sagten sie: Nee, länger wie ein Jahr bleiben wir nicht hier. Sie sind alle hier geblieben und alle haben hier geheiratet.

Dieter Koch vor der Schule in Tantow, 1956
Vor der Schule in Tantow 1956

Mein Mann Dieter war Diplom Landwirt, damals sagte man Agronom. Zuerst hat er ein Jahr in Tantow in dem Landwirtschaftsbetrieb gearbeitet. Dann ist er 1957 nach Luckow gekommen und wurde LPG Vorsitzender. Das war keine leichte Aufgabe, vor allem als es hieß: Alle Bauern müssen in die LPG. Ich habe da zum meinem Mann gesagt: Lass dich mal bloß nicht verkloppen. Die Bauern haben sich immer sehr beschwert. Sie wollten nicht in die LPG, aber sie konnten ja nichts machen. Als dann später die Pflanzenproduktion in Luckow aufgegeben wurde, ist er nach Casekow in die LPG gewechselt. Später war mein Mann der Leiter vom Agro-Chemischen-Zentrum (ACZ) in Casekow. Das ACZ war für den ganzen Kreis Angermünde zuständig. Da hatte er viel zu tun und war wenig zu Hause. Danach ist er ins VEG nach Blumberg und war dort in der Pflanzenproduktion. Zum Schluss kam er wieder in die LPG nach Luckow. Auch er verlor 1991 seine Arbeit.

1979 zogen wir nach Casekow. Die Kinder wurden größer und sollten bald eine Ausbildung machen. Wir konnten sie nicht alle immer zum Zug fahren. Das ACZ hat uns auch unterstützt ein Haus zu bauen. Sie übernahmen den Rohbau, den Rest mussten wir allein machen. Das war eigentlich kein Problem, aber es gab kein Material. Aber irgendwie haben wir es geschafft. Seitdem lebe ich hier in Casekow. Zuerst Augustwalde, dann Luckow und nun also Casekow…

Erzählt von Adelheid Koch, geb. Johann.
Aufgeschrieben von Doreen Kuttner.

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Luckower Hochzeit

Luckower Hochzeiten

Das Leben in Luckow war früher nicht einfach. Ist es das heute? Aber Hochzeiten wurden und werden groß gefeiert. Manche haben ihr halbes Haus ausgeräumt, um Platz für die Gäste zu schaffen. Das halbe Dorf wurde dann eingeladen und eine Musikkapelle war natürlich auch dabei.

Weiterlesen »

Luckow – der Name

Unser Luckow ist einzigartig – für uns auf jeden Fall. Aber sehen wir auf eine Landkarte, sehen wir plötzlich viele Orte, die so heißen, Luckow bei Ahlbeck, bei Strasburg: ein Groß-Luckow und ein Klein-Luckow, bei Neuruppin hieß eine aufgegebene ebenfalls Luckow. Auch in Polen gibt es eine Stadt und zwei

Weiterlesen »